Der Vater von Annika ist Weber. Ein Beruf mit Zukunft, hatte man ihm vor knapp 30 Jahren versprochen. Jetzt ist er das, was alle Weber in unserer Region sind: arbeitslos.
Annika hat noch 2 jüngere Geschwister, die Mutter ist Hausfrau, kümmert sich um die beiden Kleinen, blieb zu Hause, weil es an ihrem Wohnort keine Betreuungsmöglichkeit gab. Ein Auto hat die Familie nicht mehr.
Annika war in der Grundschule ein verträumtes Kind.
Nicht wirklich schlecht, aber ihre Noten waren nur so mittelmäßig. Sie spielte gerne und vergaß darüber ihre Hausaufgaben. Zu Hause wurde das nicht kontrolliert, konnte ihr auch gar nicht geholfen werden. Ihre Lehrerin sagte: „Ein richtig nettes Kind, aber ihren Kopf hat sie überall, nur nicht in der Schule. Vielleicht braucht sie ja noch Zeit?“
Beantwortet wurde diese Frage nie.
Mit 9 ½ Jahren wurden die Weichen für Annika gestellt. Anhand der bisherigen Schulnoten. Anhand der Möglichkeiten der Eltern. Anhand der Beurteilung der Lehrer zu genau diesem Zeitpunkt.
Annika besuchte also die Hauptschule am Ort. Eine andere gab’s auch gar nicht.
Mit 13 entdeckte Annika ihre Begabung für Sprachen. Und verlies – später als andere Kinder – ihre Traumwelt.
Ihre Schulnoten besserten sich, Englisch und Deutsch wurden ihre Lieblingsfächer. Gern hätte sie noch weitere Sprachen kennen gelernt – die wurden jedoch an ihrer Schule nicht angeboten und andere Möglichkeiten waren ihr unbekannt.
Ihr Eltern wussten schon lange nicht mehr, was Annika in der Schule tat. Aber es schien ja o.k. zu sein.
Als Annika mit 14 nach Hause kam und leise anfragte, ob sie nicht die Schule wechseln könne, um mehr zu lernen, waren die Eltern baff. Sie blieben es und ignorierten den Wunsch. Wenn die Sprache darauf kam, hieß es „Wo willst Du denn hin? Mach mal erst Deine Schule zu ende, dann gucken wir weiter!“
Annika bekam Langeweile, wusste nichts mehr mit der Schule anzufangen und ihre Noten wurden wieder schlechter. Sie machte den sogenannten a-Abschluss, bekam keine Lehrstelle und ging ins Berufsgrundschuljahr.
Heute ist sie das, was ihr Vater ist: arbeitslos.
Nie hat sich jemand ernsthaft gefragt, welche Möglichkeiten in Annika lagen.
Nie hat jemand vorausgeschaut und niemals wurden ihr Chancen aufgezeigt.
Sie wurde jeweils zu einem Stichtag bewertet. Und wenn dieser Stichtag vorbei war, waren auch die Alternativen vorbei.
Es ist falsch, Kinder schon im Alter von 9 oder 10 Jahren auseinander zu dividieren und den gesamten weiteren Lebensweg dieser kleinen Menschen schon so früh und so unwiderruflich festlegen zu wollen.
Was wir und unsere Kinder brauchen, sind echte Häuser des Lernens, sind Gemeinschaftsschulen, die wirklich für alle da sind – egal welcher ethnische Hintergrund besteht oder wie groß die Finanzkraft oder auch der Ehrgeiz der Familie ist.
Chancengleichheit für alle Schülerinnen und Schüler statt unsozialer und willkürlicher Auslese muss zum Ziel schulischer Bildung werden.
Chancen müssen nicht nur wahrgenommen werden. Annika konnte das ja gar nicht, weil sie sie nicht kannte. Chancen müssen auch geboten werden, sie müssen wahrgenommen werden können.
Das bestehende 3-gliedrige Schulsystem, die radikale Zuweisung nach der Grundschule in eine der 3 Typen: Haupt- oder Realschule oder Gymnasium, produziert das Gegenteil von Chancengleichheit.
Und sind es in der Realität eigentlich nur 3 Glieder? Auch die Berufsschule, das Berufskolleg, ist ja Pflichtschule, zumindest bis 18 – und hat mit den anderen dreien manchmal reichlich wenig zu tun. Auch das, was man früher „Sonderschule“ nannte, Schulen für Lernbehinderte, Erziehungshilfe etc. existiert völlig losgelöst.
Es ist traurig, aber wahr:
Wer einmal auf einem bestimmten Schultyp landet, bleibt dort. Egal, ob es ihm angemessen ist – egal, ob richtig oder falsch platziert.
Jeder Versuch, nach neuen Erkenntnissen über die eigene, persönliche Situation und die individuellen Fähigkeiten, auch die schulische Richtung zu variieren, in eine passendere schulische Laufbahn zu wechseln, ist zum Scheitern verurteilt.
Durchlässigkeit gibt es nicht, selbst Kooperation zwischen den Gliedern des Schulsystems ist nur freiwillig vorhanden – unmoderiert und strukturlos.
Es bleibt dabei: Im Alter von noch nicht einmal 10 Jahren wird ein Stichtag gesetzt, der entscheidet, welches schulische Leben – und welche Zukunftschancen – der Mensch hat. Punkt.
2 Fragen stellen sich:
1.Muss das so sein? … und
2.Was haben wir politisch hier vor Ort damit zu tun?
Die erste Frage ist einerseits einfach zu beantworten – nämlich mit: NEIN! Es muss nicht so sein,
allerdings ist dieses NEIN viel schwieriger umzusetzen.
Unsere Forderungen sind jedoch klar: Gesamtschulen müssen endlich gefördert statt bekämpft werden!
Denn sie bieten die Durchlässigkeit, die Chancen zum Wechsel und die ständige Neubewertung der Schüler nach ihren sich entwickelnden Fähigkeiten statt nach einem sturen Stichtag.
Und integrativer Unterricht muss gefördert werden!
Auch Kinder mit Lernschwächen, mit körperlichen Einschränkungen, mit Erziehungsproblemen oder mit chronischen Krankheiten dürfen nicht ausgesondert werden. Auch – und gerade sie – müssen den gleichen Zugang zu den Bildungs-Chancen wie alle anderen erhalten.
Auch auf die 2. Frage möchte ich eingehen:
Was können wir hier vor Ort erreichen? Für Schulen ist doch das Land zuständig, es ist Dienstherr der Lehrerschaft und setzt die Lernziele und –inhalte fest. Wir hier vor Ort haben uns doch nur um die Gebäude zu kümmern. – Falsch!
Die Kommunen und Kreise, auch hier, auch im Kreis Viersen – sind mit im Boot, sind mit in der Verantwortung.
Über 47.000 Schülerinnen und Schüler gibt es im Kreis.
12.700 davon besuchten im letzten Jahr die 56 Grundschulen in den 9 Städten und Gemeinden.
4 ½ Tausend die 11 Hauptschulen
8 Realschulen wurden von 5.700 Schülerinnen und Schülern besucht und
11.400 gingen zu einem der 11 Gymnasien
Neben den 5.800 Berufsschülern an 2 Berufskollegs gibt es noch 10 Sonderschulen mit immerhin über 1.500 Schülern.
Es ist mir wichtig, klar zu stellen, wie zentral das Thema Bildung auch auf regionaler Ebene zu sein hat:
16 % unserer Bevölkerung, also etwa jeder 6. Mensch im Kreis Viersen geht zur Schule!
Und wie sieht diese Schullandschaft aus?
Die kleinste Gruppe davon – 4.000 oder 8% der Schüler – besucht eine der 4 Gesamtschulen. Integrative Klassen an Grundschulen sind rar. Und an weiterführenden Schulen so gut wie gar nicht vorhanden.
Städte und Gemeinden schauen auf „ihre“ Schulen, diskutieren „Import“ und „Export“ – regeln den Zugang von ortsfremden Schülern pingeligst nach Planzahlen und halten Schulpolitik für ausreichend betrieben, wenn nach langem Ringen Geld für neue Stühle oder einen einzigen Computer bereitgestellt wird.
Wie sieht es eigentlich außerhalb der Gesamtschulen – die im Übrigen Jahr für Jahr Tausende von Schülern aus Kapazitätsgründen ablehnen müssen – mit der Durchlässigkeit, dem Wechsel zwischen den Schultypen aus?
Was weiß eigentlich die weiterführende Schule von dem Schüler, der Schülerin, die neu kommt?
Welche Informationen haben Lehrer des 3-gliedrigen Systems, was ihre Schützlinge am Berufskolleg erwartet?
Wenn schon Klassengröße, Arbeitsverträge und Lehrinhalte vom Land bestimmt werden, wenn die Überwindung des undurchlässigen 3-Klassen-Systems landespolitische Angelegenheit ist … dann ist es unsere Aufgabe, wenigstens Kommunikation und Austausch zwischen diesen Schultypen zu fördern und zu moderieren.
Schulen – egal welche – sind keine Inseln. Alle Bildungssysteme vom Kindergarten über die grund- und weiterführenden Schulen bis hin zur Berufs-, Fach- und Hochschule bereiten auf eine Position in unserer Gesellschaft und konkret auf das Arbeitsleben vor. Sie müssen nicht nur untereinander in Kontakt stehen, sondern zwingend auch mit der Gesellschaft, mit dem Alltag und mit der Arbeitswelt. Feste und verbindliche Strukturen für den „Übergang von Schule in Beruf“ sind also zu schaffen. Hier darf man nichts dem Zufall überlassen, es kann nicht von Willkür bestimmt sein, ob ein junger Schulabgänger eine Arbeitsstelle bekommt oder nicht.
Warum gibt es eigentlich keinen regelmäßigen „Runden Tisch“, an dem Betriebe den Schulen erzählen, was sie in den nächsten Jahren brauchen und Lehrer den Chefs erläutern, was Schule leisten kann und wie Schüler betreut werden können?
Und auch das kann ein Kreis besser organisieren als jede Schule oder jede Kommune für sich.
Nicht zuletzt beginnt Beste Bildung schon in Kindergärten – und die sind kommunale Aufgabe. Die Grundschule mit der Offenen Ganztagsschule führt dies folgerichtig fort.
Einrichtung von Schulsozialarbeit – oder außerschulische Angebote wirklich erreichbar machen – das sind kommunale Themen.
Für Sozialdemokraten ist die Stärkung von chancengewährenden Schulen außerhalb des starren 3-gliedrigen Systems eine ihrer Grundforderungen. Neben der Abschaffung konservativer Scheuklappen gehört auch die Überwindung der förderalen Abgrenzungen dazu. Den abwehrenden Spruch: „Da sind wir nicht für zuständig – das müssen andere entscheiden!“ kann ich nicht mehr hören.
Für die Sozialdemokraten im Kreis Viersen gehört zur Besten Bildung:
Die offene Ganztagsschule muss ins Zentrum des kommunalen Lebens. "Die Schule kennt den Ort – der Ort kennt die Schule!"
Durch die Vernetzung von Jugendhilfe, Sport, örtlichen Vereinen und vielen weiteren Akteuren mit schulischen Angeboten werden wir allen Kindern – auch denen von Migranten – gerechte Chancen des Bildungszugangs bieten.
Den Berufskollegs im Kreis Viersen gebührt eine wichtige Rolle. Sie bieten guten Unterricht für Auszubildende und berufsorientierte Bildungsgänge in Teil- und Vollzeit an, mit der Möglichkeit, einen höheren Schulabschluss zu erwerben. Wir werden dafür sorgen, dass die Bildungsgänge den ständig sich wandelnden Berufsbildern und Berufen angepasst werden. Dazu muss auch an den Berufskollegs eine bestmögliche IT-Ausstattung geschaffen werden.
Und die Schaffung weiterer Gesamtschulen ist genauso unsere Forderung wie die Beitragsfreiheit vom Kindergarten bis zur Hochschule.
Für mich gehört ganz konkret dazu:
Städte- und Gemeindegrenzen übergreifend Austausch und Kommunikation ermöglichen und zu moderieren.
Kirchturmdenken vermindern: Auch Grefrather besuchen Schulen in Kempen, Nettetaler Schüler pendeln nach Viersen.
Institutionelle Verankerung von Plattformen, auf denen alle momentanen Schultypen vertreten sind, ihr Wissen um ihre Schüler und ihre Strukturen den jeweils anderen vermitteln und letztendlich Wechsel ermöglichen können.
Im Sinne von Annika nichts anderes als die Gewährung einer echten Chance:
Wie viel größer wäre nämlich diese gewesen, wenn nicht die pure Momentaufnahme aus dem 2. Halbjahr des 4. Grundschuljahres das einzig ausschlaggebende Kriterium für ihre gesamte schulische Bildung – und letztendlich für ihr ganzes Leben gewesen wäre?